Mit Sechzehn nahmen mich meine Eltern nach Berlin mit, die Mauer stand gerade noch. Deswegen hatte ich ein wenig Angst. Nicht vor der Mauer, vor dem ostdeutschen Personal an der Grenze, das im allgemeinen als sehr pflichtbewusst, eventuell sogar übereifrig und neugierig galt. Es wurde einiges über Kofferräume und mehr erzählt.
Später in einer Seitenstraße des Kurfürstendamms in einem Hotel ein Zimmer, in dem das Licht braun auf gelbe Tapeten schien, deren Muster ich vergessen habe. Und es roch grün und braun und auch etwas grau nach zurückgelassenen Lebensbruchteilen, die modernd aus Ritzen und Polstern hervor krochen. Die Heizung, sie rasselte. Knackte wie ein verzogenes Uhrwerk taktlos und gemein, von unbeendeten Geschichten vergangener Nächte ruhelos getrieben. Da halfen auch kein Tritt und kein Drehen an der Schraube, die Heizung knackte nur noch mehr und flüsterte laut und deutlich von Einaktern unter den Lichtern der Straße.
Jedes Knacken ein Vorhang, neue Szene, schneller, lauter, tiefer. Schnitt. Straße dann. Ohne Ziel lasse ich mich über den Kudamm treiben, erinnerungslos, weil die Lichter mir nichts von einer Vergangenheit erzählen können. Es ist das erste Mal.
Ich kaufe Bier und schwebe von den Lichtern der opulenten Schaufensterauslagen zu den Leuchten unbezahlbarer Karossen, die ich nur aus Film und Fernsehen kenne und schwimme im Lichtermeer, vollkommen befreit von meinem Leben, in dem ich am vorigen Abend noch beim gemeinschaftlichen Gebet in der Jugendgruppe in den Augen eines Mädchens mit einem rosa Pulli ertrank, weil es so einiges gab, wofür es sich beten ließ.
Und zwischen den Stellkästen auf der Promenade: Beine in hautengem Rosa, auf dem sich die Lichter der Autos brechen, eine Jeansjacke in weißem Kurzundknapp unter goldgelben Haar, dessen Haarsprayglitzer mich hinabzieht, tiefer, tief in das Meer der Träume.
Ich bin sechzehn und habe nur mein Taschengeld und später in einem Zimmer in einem Hotel, in dem es grün und gelb und braun dunkelte, rauschte die Heizung in rosa und weiß.
Und knackte unaufhörlich.
Vielleicht, wenn es mir gelänge meine Träume zu töten,
gewänne ich das Leben.
Was für ein Leben aber würde das sein?
Ohne Träume?
Ein brauchbares wohl!?
Und selbst dann, wenn da draußen die Pest alles darniederrafft und jeder gegen jeden pestet, gerade dann sind Träume etwas großartiges. Allein der Gedanke, der Traum an sich, ist lebenswert.
Aus einem Dokumentarfilm von Rainer Werner Fassbinder.
Wann trifft man schon auf Winston Tong und Herrn Fassbinder im Duett!
Und einmal da standen sie bei ihr im elterlichen Wohnzimmer und vergaßen ihre gute Stube und nicht ein Wort fiel und sogar ihr Lachen verlief sich im schweren Polstergrün, in dem sie vor Blicken geborgen bleiben wollten bis zum Morgen.
Ein anderes Mal zeigte sie ihm Fotos mit Pferden und mit Kühen drauf und seine Augen verfingen sich alsbald in ihren schwarzen Locken und hörten nicht, wie sie mit den vergangenen Tieren und den lebenden Gemälden sprach.
Und er zeigte ihr Fotos mit Altaren und Talaren drauf und ihre Ohren versanken in seinen Händen und sahen nicht, wie er mit den vergangenen Kreuzen und den lebenden Büchern sprach.
Im blickdichten Polstergrün, dessen warme Schwere das Licht verdichtete, verstanden sie sich wortlos, sie konnten sich gut riechen.
Und an einem Morgen, da regnete es einen schlechten Film in einer unverständlichen Sprache und sie gingen ihrer auseinandergeliebten Wege.
Und später noch, da begegneten sie sich noch einmal in einer anderen Stadt und noch ein letztes Mal berührten sich ihre Nasen.
Weißer Panther im Gebüsch. Setzt zum Sprung an, reißt mich vom Sattel. Mein Kopf auf kaltem Asphalt. Tritte, Parolen, Swastika. Bleibe liegen, wehrlos, verwundet. Im Gebüsch noch mehr von ihnen, Swastikalachen, auf meine Gegenwehr lauernd.
Ich habe Angst, dass sie mit mir machen, was sie mit ihm ein paar Monate zuvor gemacht haben.
Ein erzwungenes Geständnis auf einsamer Straße im Zwielicht ist meine Rettung.
Und doch fühle ich mich schlecht, besudelt, ein feiger Hund, der aus Angst vor den Tritten der Stahlkappen um sein Leben winselt. Hätte ich es nicht getan... der Rest von ihnen wartet im Gebüsch, es sind viele..
Vor 14 Jahren war das, kurz vor Hamburg.
Und die weißen Panther, sie leben, sie sind nicht auszurotten. Manchmal versuchen sie im Schlaf über mich herzufallen, doch ich habe gelernt die Träume zu wechseln.
Und nun sind sie wieder da. Sie waren nie weg. Vor ein paar Nächten hetzten sie einen anderen. Und keiner hätte etwas mitbekommen. Er rannte und rannte, bis ihnen die Schwere ihrer Stiefel den Beutezug vermasselte.
Und gestern Abend hundert Meter hinter mir drei von ihnen, dumpfe Tierlaute aus dem deutschen Urwald. Mein Herz beschleunigt den Schritt und will den Befehl zum Rennen geben, doch ich renne nicht. Gehe im selben Tempo weiter, fast schlendernd, alle Sinne gespitzt. Sie halten Schritt. Und ich bin wieder potentielle Beute, bereit jede sich bietende Fluchtmöglichkeit zu nutzen, wie damals im Dorf, bereit über den Gartenzaun zu hechten, falls die abgedunkelten Autoscheiben anhalten sollten.
Gestern Abend hatten sie keinen Hunger, aber sie werden immer Schritt halten.
I talk to the wind
My words are all carried away
I talk to the wind
The wind does not hear
The wind cannot hear.
Und auf einmal nadelt es Kälte, dornig und stiftig schlägt mir der Wind mitten ins Gesicht, streckt mich besessen nieder und tötet mich halb, weil ich seinem Raubzug im Wege stehe. Gierige Pranken watschen die Lichter der Danziger ab, schwarze Flecken in der Grabeshelle der Laternen.
Ein angestochenes Tintenfass im Bordstein, in dessen Rinnsal ich mich wälzend zu ertränken gedenke, um ja nicht zusammen mit den Abfällen der Straße in den Äther verweht zu werden, in die endlose Kälte.
Besudelt von Tinte wanke ich heimwärts, die Danziger entlang, die geliebte und verhasste Danziger, die lange Danziger, deren mit Geschichten vollgesogenen Papierlagen meine Schritte nicht einmal mehr verhallen lassen, die mich aufsaugt und bedeutungslos werden lässt.
Ich bin nicht da, der Wind hat gewonnen, und nur als ich mich füge und mich dem Nichts überlasse, lasse ich alles zurück und werde zu Tinte.
Äther verursacht übrigens einen über Tage anhaltenden ekelhaften Mundgeruch. Äther, damals vor Äonen bei Dir, als sie ihm in der Geschlossenen das Schaumschlagen beibrachten.
Nun, der Maskenball ist over und ich gehe kopflos durch das Gras, um mein Gesicht wiederzufinden, das ich heute irgendwann unterwegs verloren hatte. Jeder Schritt eine Faser, jeder Atemzug eine Pore. Der Wind schminkt mich gnadenlos ab, verweht die Verkrustungen meiner bröselnden Maske im sternenlosen Dunkel der Nacht.
Gehen ist Atmen, und mein Gang ist schnell. Eingehen, ausgehen und weitergehen. Ich atme mich noch um den Verstand, offenes Visier, im Schutze der Dunkelheit. Wäre es immer dunkel, bräuchten wir dann noch Masken?
Und dabei war es gar nicht so schlimm. Reibungsloser Ablauf, alles in allem. Freundlichkeiten hier, Aufmerksamkeiten da, ob echt oder falsch, was macht das schon für einen Unterschied. Hauptsache, das Make-Up sitzt. Diese Kongresstage sind wie Kabarett, und ich kann Kabarett nicht ausstehen. Daher wohl meine schlechte Laune in the morning. Aber nun, meine Beine sind schwer, so wohlig schwer, schlafmohnig schwer, nun kuscheln meine angeschwollenen Füße in heißem Wasser und erzählen sich ganz aufgekratzt Gute-Nacht-Geschichten und träumen schon beinahe fahrlässig von neuer Leichtfüßigkeit.
werde ich Dir heute die Wahrheit sagen. Vor aller Welt. Das wäre Dein Ende. Es ist nämlich nicht meine Wahrheit, sondern Deine Wahrhaftigkeit. Und das macht es so reizvoll, meine Finger jucken. Und natürlich werde ich Dich dabei siezen, wie es sich einer Sklaventreiberin gegenüber ziemt, in formvollendeter Contenance.
Heute ist Dein Aschermittwoch und ich bin Dein schwarzer Engel.
Leider kann ich auf die Brötchen nicht verzichten, insofern muss ich es irgendwie hinbekommen, in den nächsten sieben Stunden ein freundliches Gesicht zu machen.
Ich brauche eine Maske.
Karneval ist doch vorbei oder? Jemand eine über?
Kann nicht jemand heute für mich scheinen?
I've been hanging from a rope of mediocrity
Strung up by my insecurities