Kassettenmenschen
Autofahren, Autofahren, Autofahrer haben spezielle Compilations, die ihnen das Autofahren verschönern. Früher hieß das Mixkassette. Oder überhaupt Kassette, Kassetten wurden zu jedem Anlass hergestellt, sei es für die nächtliche Fahrt zur Dorfdisco, die je nach Standort des Stalls bis zu einer Stunde dauern konnte. Die Orte hießen dann zum Beispiel Hützel oder Riepe - oder wenn es uns furchtbar langweilig war, Wehldorf - und je nach Ortswahl wurde im Auto das Hützel- oder Riepe-tape (für Wehldorf gab es keines) gehört, wegen Einstimmen und so.
Oder sei es für die tägliche Fahrt zur Schule, die in meiner Abizeit zu den Highlights des Schultages gehörte, weil unser Chauffeur zwischen zerfetzten Tabakbeuteln, Papers und allerlei ranzigen Fastfoodverpackungen stets wunderbare Kassetten im Handschuhfach zu liegen hatte. Die Macht über die Auswahl des Guten-Morgen-tapes hatte allerdings unser Chauffeur, der je nach psychischer Verfassung entweder das Sisters of Mercy-tape oder das andere Sisters of Mercy-tape durchlaufen ließ, was mich nicht sonderlich störte, weil es unendlich besser war, fünf Tage hintereinander zweimal täglich "This Corrosion" zu hören als den Schulbus nehmen und 30 Minuten pubertierendes Geschrei ertragen zu müssen. Die meisten Verletzungen fügen sich Kinder übrigens in Schulbussen zu. In den drei Jahren morgendlicher Oberstufenschulfahrt lernte ich allerdings nicht nur die Sisters und Andrew Eldritch besser kennen, sondern auch Phillip Boa und die damals und noch Jahre danach hierzulande unbekannten Goo Goo Dolls, die zu der Zeit noch weitaus roher und punkiger aufspielten als in den letzten zehn Jahren. Mit den Goo Goo Dolls reiste ich Million Miles Away über den Road To Salinas und sagte zu ihr There You Are, um ihr zehn Lieder später vor Liebe kummernd Two Days in February vorzuhalten. Kassettenmädchen gab es ja auch. Stuckrad-Barre zum Glück noch nicht, obwohl seine Geschichte über das Kassettenmädchen schon doch eine schöne ist, doch doch.
Es gab auch ganz andere Autofahrer-Kassetten, Kassetten, die nur des Autofahrens willen bespielt wurden, zu deren Musik in Landstraßentempo Freunde eine Landpartie an milden Spätfrühlingssonntagen veranstalteten. Erinnerst Du Dich noch an das Brandloch, das ich überbekifft in Deinen Teppichboden brannte, als wir beschlossen alle sechs Doors-Platten hintereinander zu hören und genüsslich hysterisch lachend Jimbos Drogilyrik rezitierten? Father, I want to kill you, Mother I want to fuck you. Und an die Angst? Angst vor dem elterlichen Stress, wegen neuem Teppichboden und so. Inzwischen bist Du wahrscheinlich genauso spießig wie sie es waren, ich weiß es nicht, weil ich Dich seit zehn Jahren nicht mehr gesehen habe, aber der Spießer in Dir, der lebte damals schon, heimlich und verschlagen, genährt und am Leben gehalten von Deinem Bedürfniss nach Statuserlangung. Und doch war da etwas an Dir, in Dir, Deine Kassetten im gesaugten Handschuhfach haben verraten, worüber Du genüsslich gelacht hast, Deine Lakaien haben verraten, was Du Deinen Freunden nicht erzählt hast.
Ocean wide, ocean wide
Calming down at last
Listening to the changing tides
Drawn to the past
deine lakaien - mindmachine
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sisters - black planet (es war ein Passat, damals, Schule)
sisters - dominion (und das hier kann ich gar nicht laut genug hören)
pollon - Februar 4, 23:18